Quelle: Praxis der Systemaufstellung 2/2010 S. 60f
In einer Gruppe in Spanien bittet eine Frau um eine Aufstellung für Ihre 15jährige Tochter. Diese leidet seit 4 Jahren an Magersucht. Die Eltern sind seit ihrem 16. Lebensjahr ein Paar, heirateten mit 23 und bekamen diese Tochter. Laut Angabe der Klientin gab es weder bei ihr noch bei ihrem Mann jemals Zweifel an der Beziehung. Die Ehe ist harmonisch und von gemeinsamen Interessen wie Sport und Reisen geprägt.
Mich wundert, weshalb es in dieser, wie es klingt glücklichen Beziehungssituation nur ein Kind gibt. Die Klientin gibt zur Antwort, dass in den ersten Jahren der Beziehung die Zweisamkeit im Vordergrund stand. Als sie ihren Kinderwunsch mitteilte stimmte ihr Mann gerne zu und sie bekamen die Tochter.
Therapeut: „Gibt es einen Grund weshalb nicht noch weitere Kinder kamen?“ Klientin: „Die Geburt unserer Tochter hat unser Leben sehr verändert. Wir wollten ganz da sein für das Kind und seine Bedürfnisse.“ So war fortan unsere Tochter der Mittelpunkt in unserem Leben und die Frage nach einem zweiten Kind hat sich nicht gestellt.“
Auf die Frage ob ihr Mann sie nicht begleiten wollte, bemerkt die Klientin, sie hätten etwa 6 Monate nach dem Ausbruch der Magersucht gemeinsam eine Aufstellung gemacht. Jedoch hätte die Arbeit keine Veränderung gebracht. Sie habe alleine entschieden, sich noch einmal auf eine Aufstellung einzulassen, da sie „das Leiden ihrer Tochter“ nicht mehr ertragen könne. Die Frage nach dem Ergebnis der Aufstellung beantwortet die Frau trocken: „In der Linie der Frauen fehlt die Liebe.“ Ohne näher auf diese Aussage einzugehen bitte ich die Klientin Stellvertreter für die Tochter und für deren Krankheit aufzustellen. Sie bittet eine Stellvertreterin für ihre Tochter in den Kreis und stellt ihr eine weitere Teilnehmerin stellvertretend für die Krankheit gegenüber. Die nicht zu übersehende Scheu der Klientin, die Stellvertreterin ihrer Tochter zu berühren, lässt mich fragen, ob sie Angst vor ihrer Tochter empfände. Etwas unangenehm berührt von dieser Frage bestätigt sie die Wahrnehmung.
Die Stellvertreterin der Krankheit zeigt sich der Tochter freundlich zugewandt und breitet ihre Arme aus. Die Tochter nimmt die Einladung an, geht auf sie zu und lässt sich halten. Der Anblick dieser Umarmung berührt die Klientin sehr. Als sie sich wieder gefasst hat, bitte ich die Stellvertreter, sich aus der Umarmung zu lösen und noch einmal in ihre Ausgangspositionen zurück zu gehen. Dann fordere ich die Klientin auf, Stellvertreter für sich selbst und ihren Mann dazu zu stellen.
Es entsteht das Bild eines gleichseitigen Dreiecks zwischen der Tochter und ihren Eltern, wobei beide Eltern auf die Tochter ausgerichtet sind und sich gegenseitig nicht verbunden fühlen. Die Stellvertreterin der Krankheit kommt durch diese Erweiterung des aufgestellten Systems abseits der Kernfamilie zum stehen, so dass die Stellvertreterin der Mutter sie nicht sehen kann.
Jetzt scheint es, als müsse sich die Tochter zwischen ihren Eltern entscheiden, geht schließlich auf den Vater zu und dieser schließt sie innig in die Arme. Die Stellvertreterin der Mutter zeigt sich empört über diese Art von Nähe zwischen Vater und Tochter, erlebt sich jedoch unfähig zu handeln. Die Stellvertreterin der Krankheit wartet ob die Mutter reagieren wird. Als diese unbeweglich bleibt, nähert sie sich langsam und stellt sich dicht neben die Tochter. Auf die Frage nach ihrer Empfindung, bemerkt sie: „Ich muss aufpassen. Meine Aufgabe ist, das Kind schützen.“
An dieser Stelle entscheide ich mich für einen Test. Ich bitte die Stellvertreter noch einmal in ihre Ausgangspositionen zu gehen und fordere infolge die Stellvertreterin der Mutter auf, sich der Tochter einen kleinen Schritt zu nähern. Wiederum überlasse ich den Stellvertretern die weitere Bewegung. Nach diesem ersten Schritt der Mutter bewegt sich jetzt die Tochter vorsichtig auf die Mutter zu, und als sie neben ihr steht legt sie ihren Kopf an deren Schulter. Behutsam legt die Stellvertreterin der Mutter ihren Arm um das Kind. Auf die Frage wie sich das anfühlt bemerkt die Tochter: „Gut, aber ich vertraue ihr nicht. Beim Vater fühle ich mich sicherer.“ Die Stellvertreterin der Krankheit empfindet: „Wenn das Kind bei der Mutter steht werde ich hier nicht gebraucht, aber zur Vorsicht bleibe ich in der Nähe.“
Die Reaktionen der Stellvertreter führen zu der Frage, was oder in welcher Weise könnte sich die Mutter verändern, sodass die Tochter sich ihr zuwenden kann und die Sicherheit, die Nähe und den Halt den sie sucht und braucht bei ihr auch findet.
Die Hintergründe für die Verunsicherung der Mutter liegen vermutlich in ihrer eigenen Kindheit. So bitte ich die Klientin, Stellvertreter für ihre Eltern in die Aufstellung zu bringen. Die Stellvertreterin ihrer Mutter wirkt abgeschnitten vom Geschehen und starrt gebannt auf einen Punkt am Boden. Die Stellvertreterin der Tochter empfindet Angst vor ihrer Großmutter. Sie sucht wiederum die Nähe zu ihrem Vater. Dort fühlt sie sich sicherer, doch sogleich rückt die Stellvertreterin der Krankheit nach.
Auf die Frage nach besonderen Ereignissen in der Herkunftsfamilie ihrer Mutter gibt die Klientin zur Antwort: „Meine Großmutter hat zwei Kinder verloren, eines vor der Geburt meiner Mutter und eines starb als meine Mutter ein Jahr alt war.“
Während die Klientin von den verstorbenen Geschwistern ihrer Mutter erzählt befällt sie eine kaum zu bemerkende Starre. Sie atmet flacher und wirkt mehr in sich zurückgezogen. Sie braucht etwas Zeit die Aktivierung dieses Traumas zu regulieren. Als ihre Körperfunktionen zeigen, dass sie wieder ausreichend kompensiert, bitte ich eine Gruppenteilnehmerin die Großmutter der Klientin zu repräsentieren und sich ihrem Gefühl folgend in die Aufstellung zu begeben. Diese stellt sich hinter die Stellvertreterin der Mutter der Klientin.
Da niemand auf das Erscheinen der Großmutter reagiert bitte ich noch eine weitere Teilnehmerin sich stellvertretend für eines ihrer verstorbenen Kinder an jene Stelle auf den Boden zu legen auf den die Mutter der Klientin seit Anbeginn fokussiert ist. Dies führt zu Entspannung bei fast allen der aufgestellten Repräsentanten. Die Stellvertreterin der Mutter der Klientin zeigt sich über das Erscheinen ihres verstorbenen Geschwisters erfreut und die Stellvertreterin der magersüchtigen Tochter löst sich ein wenig von ihrem Vater.
Diese Anzeichen einer Wende sehe ich als Hinweis, dass alle wichtigen Personen vertreten sind. Doch wie geht es der Klientin mit dem Ergebnis der Aufstellung? Und was sind ihre Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die Dynamik in ihrer Familie?
In Anlehnung an die Grundregel der klassischen Homöopathie, eine Arznei (Simile) für den Inbegriff der Symptomatik des Patienten zu finden, erlebe ich mich in der Aufstellungsarbeit manchmal bemüht, für den Klienten eine Art „Tipping point“ zu suchen, über den eine lösende Bewegung angeregt oder eingeleitet werden kann.
Dabei nütze ich die zur Austestung von Medikamenten erlernten Methoden der medizinischen Radiästhesie und Physioenergetik. In der Aufstellungsarbeit treten an die Stelle der homöopathischen Einzelmittel die so genannten lösenden Sätze oder Gesten. Um deren Wirkungen für den Klienten in der Aufstellung sichtbar zu machen sehe ich meist davon ab, den Klienten selbst in das Aufstellungsgeschehen zu führen. Vielmehr ziehe ich es vor, dessen Stellvertreter in der Aufstellung zu belassen während ich mit dem Klienten direkt arbeite. Oft kann damit auch seine Reaktion anlässlich der Interventionen in der Aufstellung sichtbar werden.
In diesem Beispiel schlage ich der Klientin vor, zur Stellvertreterin ihrer Mutter zu sagen: „Liebe Mama, du fehlst mir – “.
Dieser Satz berührt die Klientin sehr, und erst nach einer Weile gelingt es ihr die Worte zu sagen. Die Stellvertreterin der Mutter, die bisher nur zu Boden blickte, löst sich daraufhin aus ihrer Unbeweglichkeit, schaut zu ihrer Tochter und geht einen Schritt auf sie zu. Wie von selbst entfaltet sich damit eine neue Ordnung im aufgestellten System. Unheilvolle Bindungen lösen sich und heilsame Verbindungen können entstehen. Durch die Hinbewegung der Großmutter zu ihrer Tochter wird der Blick der Urgroßmutter auf deren verstorbenes Kind frei. Sie wendet sich der am Boden liegenden Stellvertreterin zu, schließt sie in die Arme und Schmerz und Trauer können fließen.
Die Stellvertreterin der magersüchtigen Tochter scheint keine Angst mehr vor ihrer Großmutter zu empfinden und löst sich aus der Umarmung ihres Vaters. Dieser schaut erstmals im Verlauf der Aufstellung zu seiner Frau.
Während ich die Hinbewegung der Klientin zu ihrer Mutter weiter begleite finden die Eltern der kranken Tochter im Aufstellungsgeschehen immer näher zueinander. Schließlich begibt sich die Tochter in die Arme von beiden und die Stellvertreterin der Krankheit zieht sich zurück.
Nach wie vor beschäftigt mich die Frage was Aufstellungsarbeit im Feld der Medizin zu leisten vermag. Ich habe viele wunderbare Aufstellungen gesehen und geleitet mit wenig Effekt und andererseits ergeben sich immer wieder geradezu wundersame Veränderungen. So bitte ich die Klientin mir bei Gelegenheit mitzuteilen, wie sich die Dinge in ihrer Familie nach der Aufstellung entwickelt haben.
Drei Monate nach der Aufstellung erhalte ich eine mail. Die Klientin berichtet, es gäbe wenige Phasen leichter Verbesserung. Allerdings bemerkt sie eine Veränderung auf der Beziehungsebene. Die Tochter ist insgesamt weniger aggressiv. Ihre Ablehnung gegenüber dem Vater hat abgenommen, sie hat mehr Kontakt zu Freunden und fühlt sich auch in der Schule etwas wohler. Nach wie vor gibt es eine starke Ablehnung der eigenen Weiblichkeit und sie klagt über ihr Gewicht (1,53 m, 40kg). Die deutlichste Veränderung bemerkt die Klientin in der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Sie verspürt keinerlei Groll mehr gegen sie und auch die Mutter selbst ist ausgeglichener.
So gesehen scheint ein erster Schritt gelungen und aus der Verbesserung auf der Beziehungsebene entwickelt sich möglicherweise Raum für weitere Veränderungen.
Die Therapieforschung hat wiederholt gezeigt, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Klient einen zentralen Wirkfaktor darstellt. So liegt auch während des Aufstellungsgeschehens ein Großteil meiner Aufmerksamkeit beim Klienten. Dabei achte ich besonders auf die Momente der Aufstellung, in denen der Körper des Klienten mit Stress reagiert. Sie verweisen meist auf persönlich erlebte oder auch Generationen übergreifende traumatische Erfahrungen in der Familie des Klienten, deren Integration aus welchen Gründen auch immer bisher nicht möglich war. Ein langsames, schrittweise Vorgehen im Kontakt mit dem Klienten unter Würdigung seiner Gefühls- und Körperreaktionen schafft eine Vertrauenssituation in der es dem Klienten vielleicht gelingt sich diesen Inhalten zu stellen, sich auf Versöhnung einzulassen und so mit einem eigenen Potential zu Veränderung in Kontakt zu kommen.