Erschienen in Praxis der Systemaufstellung 1/2007 (überarbeitete Version) Stephan Hausner : Heilkraft aus Einklang Gesprächspartner: Marianne Franke / Stephan Hausner

F: Stephan, zu Anfang unseres Gesprächs möchte ich gerne wissen, was Deine primären Berufswünsche waren und wie Du sie umgesetzt hast.

H: Mein anfänglicher Berufswunsch war es, Biologe zu werden, und im Bereich Umweltschutz arbeiten. Doch schließlich galt mein Interesse mehr dem Menschen und seinem sozialen Umfeld und ich erwog einen medizinischen Beruf zu ergreifen. Während der Ausbildung zur Krankenpflege fasste ich den Entschluss Medizin zu studieren. Da ich mich im Rahmen der Umweltpflege bereits mit der Autoregulation von Systemen beschäftigt hatte, kam Schulmedizin nicht wirklich in Frage. Die Suche nach ökologischen Vorgehensweisen führte mich zur Traditionellen Chinesischen Medizin und über die Naturheilkunde fand ich schließlich Zugang zur Homöopathie.

Neben dem der Homöopathie zugrunde liegenden Ähnlichkeitsprinzip faszinierte mich das so genannte Sekundenphänomen. Dieses zeigt, dass der Körper in der Lage ist sich durch einen entsprechenden heilsamen Impuls augenblicklich umzustrukturieren und selbst starke Symptome können sich zurückziehen.

Schwierig erlebte ich in der Homöopathie die Arzneimittelfindung durch das Repertorium und es störte mich die Abhängigkeit von Arznei. Bei meinem Schwiegervater lernte ich das Austesten von Medikamenten und das Auffinden von Störzonen im Körper mittels Radiästhesie. Damit wurde Heilung zu einem Resonanz- und Feldphänomen und mein Ideal wurde zunehmend, dass der Arzt selbst Arznei wird im homöopathischen Sinne und durch seine Präsenz im Patienten Veränderung bewirkt. Der Behandelnde als Katalysator für die heilsame Bewegung im Patienten. Nicht er heilt, er schafft Bedingungen für Selbstheilung.

Als ich im Jahre 1993 Bert Hellinger erstmals bei der Arbeit mit Kranken erlebte, war mein Gefühl, gefunden zu haben, was ich suchte: Ich erlebte Bert als jemand, der ohne Arznei, nur durch seine Einsicht, durch sein Wesen und durch sein Tun Heilsames bei den Patienten in Gang zu bringen vermochte. Durch das Studium der traditionellen Heilkunde Chinas und der Humoralpathologie des antiken Griechenlands, in deren Gedankenmodellen Krankheit als Ordnungsstörung gesehen wird, war mir ein Zusammenhang von Gesundheit und Ordnung nicht fremd. So leuchteten mir Bert Hellingers Einsichten in die Ordnungen der Liebe“ in menschlichen Systemen und ihre mögliche Bedeutung im medizinischen Kontext schnell ein.
F: Das Seminar mit Bert Hellinger war also eine Art Initialzündung?

H: Ja, und es war auch die Erweiterung meines bisherigen ganzheitlichen Ansatzes. Sofort war deutlich, dass Ganzheitsmedizin das Familiensystems einbeziehen muss.

F: Stephan, in der Folge hast du viele Workshops von Bert besucht, was hat dich dabei besonders bewegt?
H: Es waren zwei Dinge:

Einerseits beschäftigte mich die Frage: Was ist das Heilsame an dieser Methode, worauf kommt es an, und zum anderen : Wie kommt Bert zu soviel Information in so kurzer Zeit – also seine Wahrnehmung.
Von Rajan Sankaran, einem indischen Homöopathen, der bekannt ist für seine schnelle Mittelfindung kannte ich den provozierenden Satz: “Jede Frage des Arztes ist ein Zeichen seiner Unsicherheit.“ Bert Hellinger schien die wesentliche Dynamik, die den Patienten bewegt bereits in den ersten Momenten aus dem nonverbalen Kontakt zu erfassen. Die Aufstellung erlebte ich wie die Bestätigung des bereits Erahnten. Das war für mich eine spannende Erfahrung.

F: Könntest Du über die erste Frage, „Was ist das Heilsame in Aufstellungen“, etwas mehr sagen?

H: Mein Hauptfokus in der Aufstellungsarbeit war und ist die Arbeit mit Kranken. So kann ich auf mehr als 200 Workshops zurückblicken, die für körperlich Kranke ausgeschrieben waren. Als Behandler interessierte mich die Frage: „Was hat dort, wo Heilprozesse durch Aufstellungen ausgelöst wurden zur Heilung beigetragen?“
Über die Jahre habe ich viele meiner Patienten wieder getroffen und aus meiner Erfahrung ergibt sich mehr und mehr die Vermutung, dass die Triebkraft für Erkrankung und vielleicht sogar für Verstrickung, soweit es persönliche Verantwortung darin gibt, aus der primären Liebe der Kinder zu ihren Eltern entsteht, sowie ihrem Bedürfnis und ihrer Sehnsucht nach Nähe. Zumindest ist es diese Sehnsucht nach Nähe zu den Eltern und zur Familie, die den Patienten an seiner Verstrickung und seiner Symptomatik festhalten lässt.
In der Arbeit mit Kranken scheint mir das einer der wesentlichsten Aspekte zu sein. Das hat meine Arbeit mit Aufstellungen verändert. Ich gehe in Aufstellungen häufig nicht mehr zurück bis an den Ursprung der Verstrickung oder des Problems, sondern ich unterbreche die Aufstellung, wenn ich weiß, was ist die Sehnsucht des Patienten, was ist sein Krankheitsgewinn, bzw. die Illusion seines Krankheitsgewinns. Dann arbeite ich in verdichteter Weise, dass ich den Patienten direkt mit der Person konfrontiere, auf die er in seiner Sehnsucht ausgerichtet ist und schaue was konkret in diesem Beziehungskontext passiert. Meistens sind es Vater oder Mutter.

Mein Freund, Dale Schusterman, sagte einmal: “You use the person change the system, not the system change the person.” Und das stimmt, zuerst interessiert mich der Einzelne und der Rahmen seiner Möglichkeiten als Teil des Systems. So versuche ich an die Eigenverantwortung des Patienten zu rühren, ihn in Kontakt zu bringen mit seiner Grundhaltung, die ihn verstrickt und der Haltung, die vielleicht löst und heilt.
F: Stephan, meistens gibt es für solche Erkenntnisse Schlüsselerlebnisse. Vielleicht kannst Du da eines berichten.

H: Deutlich wurde es mir im Jahr 2004 bei einem Kurs in Washington, DC: Der Patient war selbst Arzt. Aufgrund eines progredienten Knochenkrebses im rechten Bein musste er sich mehreren Operationen unterziehen und trug eine von allen sichtbare Prothese. Hinzukommend hatte er Metastasen in der Lunge. Er kam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in die Gruppe, war in einem Bestrahlungsprogramm und deshalb eigentlich nur für den 1. Tag anwesend.

Ich bat ihn Stellvertreter für sich selbst, für seinen Vater und für seine Mutter zu wählen. Er stellte sie in Beziehung zueinander auf und wir fügten noch einen weiteren Stellvertreter für die Krankheit dazu. An den Reaktionen der Stellvertreter zeigte sich eine Verbindung zwischen der Krankheit und seiner Mutter. Weiteres Nachfragen ergab jedoch keine relevanten oder zielführenden Informationen. Der Patient betont, dass er einen guten Kontakt zu seiner Mutter hat und immer hatte. Die Aufstellung zeigte nur wenige und vage Hinweise auf mögliche Zusammenhänge und die geringe Bereitschaft des Patienten, sich auf ein weiterführendes Interview einzulassen ließ mich die Aufstellung unterbrechen.
Der Abbruch stimmte den Patienten ärgerlich, er sei mit seiner Familie von weit her geflogen und jetzt sei er doch enttäuscht. Ich versicherte ihm, ich würde die Arbeit am nächsten Tag fortsetzen, wenn sich durch das Erlebte neue Aspekte eröffneten. Er wandte ein, er müsse heute Abend wegen eines wichtigen Behandlungstermins den Abflug antreten. Ich wiederholte, er habe alle Möglichkeiten und es wäre seine Entscheidung.

Am folgenden Tag war er da. Seine Familie hatte den Rückflug angetreten, was ihn sichtlich entspannte und er wirkte gefasster und gesammelter. Ich entschloss mich nochmals zu einer Aufstellung seines Herkunftssystems. Dabei ergab sich ein ähnliches Bild wie am Vortag: verwirrende Bewegungen der Stellvertreter, ein Geheimnis um die Mutter und wenig Potential für eine Lösung. So bat ich ihn erneut, von seiner Beziehung zu seiner Mutter zu erzählen. Am Vortag hatte er gesagt, er stünde in gutem Kontakt zu ihr, in diesem Gespräch brachte ich in Erfahrung, seine Mutter wisse nichts von seiner Erkrankung. Das war der Schlüssel. Ich fragte ihn, wie er das mache und er sagte, seit seiner ersten Operation habe er vermieden seine Mutter zu sehen, aber sie telefonieren täglich und sprechen über alles, nur nicht über die Erkrankung. Nach dieser Information bat ich die Stellvertreterin der Mutter sich ihm gegenüber zu stellen und ich ließ ihn sagen: “Liebe Mama, schau, ich bin sehr krank“. Die Stellvertreterin der Mutter verhielt sich nicht, wie man erwarten würde. Statt sich dem kranken Sohn zuzuwenden wurde ihr schwindlig, sie taumelte rückwärts und hatte Not nicht zu fallen. Mir kam der Satz von ihr zum Sohn: “Mein lieber Sohn, auch wenn du stirbst, du bekommst nicht mehr!“ Dieser Satz erschütterte den Patienten sehr. Es war, als würde ein Kartenhaus in ihm zusammenfallen und man konnte spüren, wie sich der Körper nach dieser Intervention neu organisieren musste. Die Stellvertreterin der Mutter fühlte sich mit diesem Satz gut und voller Kraft, hielt die Distanz und betonte noch einmal, sie hätte gegeben was sie geben konnte. Mehr wäre nicht möglich. Der Patient hörte die Worte seiner Mutter und begann zu weinen. Als er sich wieder beruhigt hatte, konnte er der Bindung seiner Mutter zustimmen und sich bei ihr bedanken.

Nach einem halben Jahr erfuhr ich, der Patient sei frei von Krebs. Plötzlich hatten die medizinischen Maßnahmen gegriffen. Im Jahre 2006 traf ich Susan Ulfelder, die Organisatorin des damaligen Workshops. Sie berichtete, er sei gesund und er habe den Arztberuf aufgegeben.

F: Deine Fähigkeit berührt mich sehr, wie du die tiefe Sehnsucht des Klienten erfassen konntest, und durch diesen unkonventionellen Satz, den eine Mutter so nicht aussprechen würde, die heilsame Wahrheit offen gelegt hast. Bleiben wir noch kurz bei dem Phänomen der Heilung und bei der Frage: Was hilft in der Aufstellungsarbeit?
H: Ich bin überzeugt, dass jede Heilung Selbstheilung ist. Als Behandler frage ich mich: was kann ich für den Patienten tun? Nun, es gelingt vielleicht einen Rahmen oder ein Feld zu schaffen, in dem sich Selbstheilungskräfte entfalten können. So ist der Behandler mit einem Gärtner vergleichbar, der sich um gute Wachstumsbedingungen bemüht.
Im Aufstellungsprozess zeigt sich häufig, wie der Kranke in einer kindlichen Sehnsucht gefangen ist. Zu einer Heilung gehört somit, dieses Stück Kindheit aufzugeben und hineinzuwachsen in die Autonomie eines Erwachsenen. Dies ist möglich im Einklang mit den Eltern.

Wenn ich Kollegen bei der Arbeit mit Familienaufstellungen beobachte, erkenne ich für mich zwei Richtungen, die man sicher nicht voneinander trennen kann und darf. Eine Arbeitsweise erlebe ich eher systemorientiert oder ausgerichtet auf die Aufstellung, die andere mehr klientenorientiert, im Sinne von: was bewirkt das, was sich in der Aufstellung zeigt im Klienten. Die Frage dabei ist: kann der Klient nehmen was er in der Aufstellung erlebt bzw. kann er mitgehen mit der Bewegung die sich zeigt?

F: Woran erkennst du das?

H: Indikator ist für mich unter anderem der cranio-sacrale Rhythmus. Im Aufstellungsprozess erlebe ich mich in Verbindung mit dem Körper des Klienten, seiner Krankheit, bzw. seiner Symptomatik. Meine Interventionen ergeben sich aus dem, was sich in der Aufstellung zeigt und aus dem Kontakt zum Klienten mit der Frage: Ist sein Körper in Resonanz mit dem was sich in der Aufstellung zeigt und ist es ihm möglich das Erlebte zu integrieren?

Der cranio-sacrale Rhythmus kommt zum Stillstand, wenn der Therapeut an frühere Traumen rührt, beziehungsweise wenn therapeutische Arbeit den Klienten überfordert. So erkenne ich, wie viel Zeit der Klient benötigt, um eine Intervention zu integrieren. Veränderung, Einsicht und Heilung setzen Beweglichkeit voraus.
In der Aufstellungsarbeit mit Kranken erlebe ich mich im Auftrag, Heilsames in Gang zu bringen, im Einklang mit Größerem. So sind Klientenorientierung und Aufmerksamkeit auf den Körper in den Vordergrund getreten.

F: Meine Frage ist jetzt, wie bringst Du die Patienten dazu, persönliche Verantwortung zu übernehmen, auch wenn sie nicht sehen wie sie ihr Verhalten ändern könnten?

H: In der Aufstellung erkennt der Patient wo er gebunden ist und wo seine Möglichkeiten liegen die Bindungen zu lösen. Es geht dabei nicht um Verhaltensänderung, sondern um eine veränderte Grundhaltung, in die es hineinzuwachsen gilt. Diese wiederum führt dann vielleicht zu verändertem Verhalten.

Zu Beginn einer Aufstellungsgruppe mache ich deutlich, dass es zu einem großen Teil das Lebenskonzept des Patienten ist, das ihn an diesen Punkt geführt hat, an dem er steht. Ich erkläre an einem Beispiel was ich „Ökologie der Krankheit“ nenne: Wir wissen, dass wir schon nach kurzer Zeit nicht mehr laufen können, wenn wir nach einem Beinbruch einen Liegegips bekommen. Das heißt, unser Körper investiert nur in Strukturen, die benötigt und benützt werden. Weshalb unterhält ein Körper eine Krankheit, manchmal für ein ganzes Leben? Das ist erklärbar, wenn der Krankheit ein tieferer Sinn zugrunde liegt, oder wenn der Klient durch die Krankheit unbewusst, einen Vorteil hat.

Dieses Bild von Krankheit rührt an die Eigenverantwortlichkeit für die aktuelle Situation. Die Bereitschaft zu diesem „Ja“ zur aktuellen Lebenssituation ist für mich Vorraussetzung für eine Aufstellungsarbeit und es ist oft auch der erste Schritt in Richtung Lösung. Die Erfahrung zeigt, wenn jemand nicht bereit ist, „Ja“ zu sagen, zu seiner Lebenssituation, zu seinem Leben wie er es durch seine Eltern bekommen hat, dann kann er oft auch nicht „Ja“ sagen zu dem, was sich in der Aufstellung zeigt. In dieser Situation arbeite ich dann zunächst an diesem „Ja“.

F: Wie gehst du da vor?

H: Manchmal mache ich eine Übung mit dem Patienten: Ich stelle ihm Schritt für Schritt Stellvertreter gegenüber. Erst seinen Vater, dann links neben den Vater die Mutter, relativ nah, so dass der Patient sich dem Blick seiner Eltern nicht entziehen kann. Hinter die Eltern stelle ich wenn nötig die Großeltern und auch die Urgroßeltern auf. Man spürt wann die Gestalt komplett ist. Dann warte ich. Wenn der Patient seinen Ahnen in die Augen sieht, muss er erkennen, dass er sein „Nein“ nicht aufrechterhalten kann, dass er im Bezug auf seine Herkunft keine Wahl hat. Oft ergibt sich aus dieser Gegenüberstellung eine Zustimmung und Hinbewegung.

Kraft für Lösung und für Heilung gewinnt man aus dem Einklang. So ist meine Anamnese unter anderem bestimmt durch die Frage: Was ist das Thema, mit dem der Klient nicht im Einklang ist. Das kann sein persönliches Leben betreffen, im Sinne einer Traumatisierung, einer unterbrochenen Hinbewegung zu den Eltern oder anderen bedeutsamen Bezugspersonen, das kann aber auch über das eigene Leben hinausgehen. In Systemaufstellungen mit Kranken wird deutlich, dass Krankheit nicht auf ein persönliches Phänomen des Kranken reduziert werden kann und darf. So ergeben sich Lösungen für Kranke oft erst, wenn ihre Symptomatik als eingebunden in einen größeren, oft generationsübergreifenden Kontext der Familie anerkannt und betrachtet wird. Dabei verweist die Symptomatik oft auf vom Patienten oder seiner Familie ausgegrenzte, systemrelevante Ereignisse oder Angehörige, die mit diesen Ereignissen in Verbindung stehen. Zukunft gibt es nur für den, der im Einklang ist mit der Vergangenheit. Wer mit Vergangenem hadert, bindet sich und ist nicht frei für eine Zukunft. Im Gegensatz zu Wertung, Urteil und Ausgrenzung erfahren wir immer wieder, wie Anerkennung, Zustimmung und Einklang mit diesen Wirklichkeiten lösende und heilsame Kräfte für Seele und Körper entfalten können.

F: Hättest Du dafür ein Beispiel, wenn man übers Familiensystem hinaus geht vielleicht über die Auswirkungen eines Krieges auf Familien?

H: Zu einem Workshop kam eine Frau. Ihr Anliegen betraf ihre Kinder, alle drei litten an schwerer Neurodermitis.

Die Frage nach Ereignissen in der Familie ergab keine der klassischen Dynamiken der Neurodermitis. Auch meine Frage, ob jemand in ihrer Familie durch Feuer umgekommen wäre, verneinte sie. Ein Nachbar aus ihrem Dorf war auch in dieser Gruppe. Ihn bewegte diese Frage sehr und er fragte ob er etwas mitteilen dürfte.

Er berichtete, er spiele mit dem Vater der Klientin in der Blaskapelle und immer wenn sie einen bestimmten Marsch spielen müsse ihr Vater weinen.

Ich fragte nach dem Thema des Marsches und er sagte es ginge um verlorene Kameraden. Die Frau bestätigte, ihr Vater sei im Krieg gewesen, jedoch spräche er nie darüber. Wir stellten das Gegenwartsystem auf. Die Stellvertreter der Töchter empfanden starken Juckreiz auf der Haut. Ich stellte den Großvater dazu und auch Stellvertreter für seine Kriegskameraden. Die Töchter fühlten sich hingezogen zu ihrem Großvater und seinen Kameraden. An diesem Platz war der Juckreiz vorbei. Als die Klientin das sah, weinte sie und verneigte sich vor ihrem Vater.

Etwa 2 Monate nach der Aufstellung rief sie an und berichtete, ihrem Vater ginge es nach der Aufstellung zunehmend schlechter. Eines Nachmittags, als sie in der Familie versammelt waren, habe er plötzlich zu weinen angefangen und zu erzählen begonnen. In Russland wurden sie während des Rückzugs in einem Dorf eingekesselt. Drei Kameraden und ihm gelang die Flucht. Alle anderen Kameraden blieben zurück, und er musste sehen, wie das ganze Dorf in Flammen stand.

F: Stephan, ich möchte noch mal zurückgehen, zu der Frage nach Klienten mit chronischen Erkrankungen und vielleicht solchen, die unheilbar sind. Könnte man sagen, dass ein Kranker etwas für die Familie tut? Und die Familie erfährt dadurch eine Entlastung und kann weiter bestehen oder wie würdest du das sehen?

H: Zu sagen der Kranke tut etwas für die Familie halte ich für gewagt. Es ist mehr das Kind in uns, seine Sehnsucht nach Nähe, nach Zugehörigkeit, und Unschuld, die Kinder bewegt alles zu geben und für ihre Eltern zu tragen um sicher zu gehen, zugehörig zu sein.

In einem Workshop in Barcelona war eine Patientin mit chronischer Heiserkeit und Stimmverlust. Selbst als Therapeutin tätig, war das eine sehr unangenehme Einschränkung. Wir stellten Stellvertreter für sie selbst und für die Symptomatik. Die Stellvertreter fühlten wenig Bezug zueinander. Als die Patientin noch Stellvertreter für ihre Eltern dazustellte, lächelten sich Patientin und Symptomatik an und umarmten sich innig. Die Stellvertreterin der Mutter wandte sich ab und wollte zu niemandem Kontakt. Der Stellvertreter des Vaters schaute auf die Tochter. Sein Blick zeigte eine erotisch-inzestuöse Dynamik. Als ich die Patientin daraufhin ansprach erzählte sie, sie wurde als Jugendliche von einem Nachbarn missbraucht. Sie wagte nie es den Eltern zu sagen. Hier vermutete ich die Verbindung zu ihrer Symptomatik. Meine Beobachtung ist, dass Vergewaltigung oft ein verschobener Inzest ist. So findet sich die entsprechende Dynamik in der Herkunftsfamilie. Erzählt die Tochter was vorgefallen war, so bringt sie damit die Dynamik ans Licht und müsste anerkennen, dass ihre Mutter an ihre Herkunftsfamilie gebunden ist. Es ist leichter nicht zu sprechen, als sich diesem Schmerz zu stellen und die eingeschränkte emotionale Verfügbarkeit der Mutter anzuerkennen.

Ich bat die Stellvertreterin der Mutter sich der Patientin gegenüber zu stellen und schlug der Patientin vor zu sagen: „Liebe Mama, für dich habe ich es gern getragen, doch jetzt ist es vorbei“. Die Stellvertreterin der Mutter sagte: “Es ist meins´ und ich nehme es“. Da weinte die Patientin und die beiden umarmten sich innig. Ein halbes Jahr später traf ich die Patientin wieder und sie berichtete, seit dieser Aufstellung sei das Symptom nicht mehr aufgetreten, und auch die Beziehung zu ihrer Mutter habe sich verbessert.

Ich habe auch immer wieder erlebt, wenn sich ein Geschwister aus einer Verstrickung löst, es manchmal ein anderes Kind aus dieser Familie plötzlich schwerer hat oder sogar die Symptome übernimmt: Das findet man vor allem dann, wenn die Eltern, aus welchem Grund auch immer, sich dem ausgegrenzten Thema nicht stellen können.

Unbewusst wird in Familien durch Krankheit ein Gleichgewicht aufrecht erhalten.

F: Ich komme jetzt zu einer Frage, die viele Menschen bewegt. Gibt es in Deiner Erfahrung Hinweise, ob es Verstrickungen in Familien gibt, die zu bestimmten Symptomen oder Krankheiten führen? Wir können da bestimmt von Dir keine Kataloge bekommen, aber vielleicht gibt es Hinweise?

H: Ich bin da sehr vorsichtig, denn werden die Hinweise wie Rezepte angewendet, so ist das gefährlich. Veränderung setzt Beweglichkeit voraus, das gilt auch für den Therapeuten! Wir müssen vermeiden, dass die gesammelten Erfahrungen zu Theorien werden, sonst geht das Heilsame in ihnen und in uns verloren, denn die Erfahrung wirkt heilsam durch das Wesen des Behandlers, nicht durch sein Wissen.

Bereits in der Naturheilkunde berührte mich die Signaturenlehre. Krankheiten und Arzneistoffe wurden „in die Schau genommen“. Aus der äußeren Erscheinungsform von Krankheit erschließen sich innere Zusammenhänge.

Letzte Woche war ich eingeladen auf einen Kongress in Madrid zum Thema: „Krebs in der Alternativmedizin“. Dort arbeitete ich mit einer Frau, die an Eierstockkrebs erkrankt war. Sie war zum 2. Mal verheiratet, ihren ersten Mann hatte sie durch Suizid verloren. Sie wirkte gefühllos und vorwurfsvoll. Ich begann die Aufstellung mit Stellvertretern für sie selbst und für die Krankheit. Für den Krebs wählte die Patientin einen Mann. Die Stellvertreter fühlten sich zueinander hingezogen. Nahe liegend wäre, an ihren ersten Mann zu denken. Um es zu testen bat ich sie, einen Stellvertreter für ihren Mann aufzustellen. Doch das brachte keine Veränderung in der Aufstellung. Der Stellvertreter des Mannes war ganz mit sich selbst beschäftigt, die Stellvertreterin der Frau zeigte kein Interesse an ihm. So fragte ich nach der Herkunftsfamilie. Im Gespräch wurde ihr plötzlich bewusst, dass die „Oma“ nicht die Mutter ihres Vaters war. Diese war bei der Geburt des Vaters gestorben. Vielleicht liegt hier eine Verbindung zur Symptomatik. Oft herrscht in Familien, in denen eine Frau im Kindbett starb eine unbewusste Angst vor Beziehung und Schwangerschaft. Vielleicht wirkt hier eine unbewusste Loyalität zur Großmutter. Ich bat die Patientin einen Stellvertreter für ihren Vater und eine Stellvertreterin für seine Mutter dazuzustellen. Die Reaktionen der Stellvertreter zeigten die Familiendynamik hinter dem Krankheitsgeschehen. Der für die Krankheit aufgestellte Mann stand in Wirklichkeit für den Vater der Patientin. Sie selbst vertrat seine Mutter für ihn. Die innige Verbindung von ihr zur Krankheit löste sich, als ein Stellvertreter für ihren Vater aufgestellt wurde. Ich bat die Patientin ihren Platz in der Aufstellung einzunehmen und ihrem Vater zu sagen: „In dir liebe ich auch deine Mutter“. Dieser Satz, der die Verstrickung zwischen der Patientin und ihrem Vater löste rührte den Stellvertreter des Vaters zu Tränen und die beiden umarmten sich lange. Die Großmutter schaute mit Freuden auf beide.

Bei Autoimmunprozessen geht es häufig um Kräfte, die zusammen gehören, jedoch nicht verbunden werden können oder dürfen und in der Folge gegeneinander wirken.

F: Kannst Du dafür ein Beispiel nennen, ich habe jetzt spontan an die Unvereinbarkeit der Haltungen zweier Eltern gedacht.

H: Meist geht es bei Autoimmungeschehen darüber hinaus. In einem Workshop in Cordoba/Argentinien hatte die Großmutter der Klientin, die an einer Autoimmunerkrankung litt, als Indiofrau einen Spanier geheiratet. Ihr fehlte der Segen ihres Vaters und dieser Konflikt zeigte sich 2 Generationen später bei ihrer Enkelin.

Ein anderes Erlebnis mit einer Autoimmunerkrankung stammt aus einem Workshop in Valencia. Die Klientin war wie ihre Mutter Trägerin des fehlerhaften x-Chromosoms das bei Söhnen zu Bluterkrankheit führen kann. Sie hatte ihren Bruder durch diese Krankheit verloren und war ihrem Vater treu, der unbewusst der Mutter einen Vorwurf machte für den Verlust des geliebten Sohnes. Als die Klientin einer Stellvertreterin ihrer Mutter gegenüber stand war es ihr nicht möglich der Mutter in die Augen zu sehen und „Ja“ zu sagen. Das „Nein“ zur Mutter und ihrer Krankheit war so tief in ihr verankert, dass es sich als Kraft gegen sie selbst richtete.

Bei der Darmerkrankung Morbus Crohn habe ich nach Aufstellungen mehrmals klinisch bestätigte Spontanheilungen erlebt. Als Dynamik zeigte in der Regel, dass die Mutter gebunden ist, und das „Kind“ die Mutter nicht gehen lassen kann. Dieser Bindung der Mutter an ihre Herkunftsfamilie, frühere verstorbene Partner oder auch verstorbene Kinder anzuerkennen, ihrer Sehnsucht zuzustimmen und die Mutter gehen zu lassen wurde von den Patienten immer wieder als heilsam erfahren. Da es sich in zwei Fällen bereits um eine diagnostizierte Präkanzerose handelte, waren die Patienten zu regelmäßigen Kontrolluntersuchungen in der Klinik. Die behandelnden Ärzte bestätigten den nachhaltigen, negativen klinischen Befund nach der Aufstellungsarbeit.

F: Das ist schon sehr erstaunlich. Aus ganz persönlichen Gründen habe ich da eine Frage: Hast Du bei Multipler Sklerose etwas erkannt?

H: Hier kann ich nur Bert Hellingers Einsichten bestätigen.

Man findet immer wieder, dass der Multiple-Sklerose-Patient mit einem Täter aus dem System identifiziert ist, und ich kann auch die These bestätigen, dass die Krankheit einen mörderischen Impuls verhindert.

Bevor ich von Systemaufstellungen wusste, hatte ich ein persönliches Erlebnis in meiner Praxis. Ein MS-Patient konsultierte mich zur homöopathischen Behandlung. Er war nahezu vollständig gelähmt. Im Rahmen der Erstanamnese stellte ich ihm die Frage: Was würden Sie als erstes tun, wenn Sie wieder gesund wären?

Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, und er sagte: „Dann bringe ich meine Frau um.“ Ich weiß nicht mehr wie ich damals reagiert habe, jedenfalls war ich erleichtert, dass er nach keinem weiteren Termin fragte.

Eine ähnliche Dynamik sieht man manchmal auch bei schweren, progressiven rheumatischen Erkrankungen.

F: Deine Erfahrungen bewegen mich sehr. Erlaube mir bitte eine letzte Frage nach der Phänomenologie, dem was in den Systemaufstellungen aufscheint. Bert sagt immer wieder, ihm geht es um die Bewegungen der Seele, jetzt auch des Geistes und das ist sein Hauptaugenmerk. Deine Arbeit erlebe ich eher auf den Körper des Menschen und auf seine Gesundheit gerichtet. Wie siehst Du dich da im Kontext mit Bert?

H: In der Arbeit mit körperlich Kranken stehen natürlich der Körper und seine Gesundheit im Vordergrund. Als Naturheilkundler sehe ich den Körper nicht getrennt von Seele und Geist. So ist meine Überzeugung, dass Heilung für den Körper nur stattfinden kann im Einklang mit den Bewegungen der Seele und den Bewegungen des Geistes.

F: Das war ein schöner Abschluss. Vielen Dank Stephan

Interview: Heilkraft aus Einklang